„Gewaltgesellschaften. Erfahrungen, Erinnerungen, Kontroversen“ (2023)
Kollektive Gewalt zeichnet Gesellschaften – nicht nur für den Moment, sondern auf Dauer. Krieg und Genozid sind transgenerationelle Projekte zur Veränderung von Staaten und Nationen, sie zielen auf die Transformation gesellschaftlicher Ordnungen, ihre Folgen sind beabsichtigt. Nicht nur individuelle Traumata gehören daher zu ihren langfristigen Auswirkungen, sondern sie betreffen fundamental die kulturellen Formationen sowohl der Opfergruppen als auch der Tätergesellschaften. Kämpfe um Anerkennung, Forderungen nach Reparation und Restitution, Suche nach und Behauptung von Identität wirken so auch mit großem zeitlichem Abstand auf soziale Selbstbestimmungen und politische Debatten. Politik kann hier vermitteln, ausgleichen, moderieren oder aber anheizen, zuspitzen, eskalieren.
Nicht erst mit der politmedialen Diskussion um die documenta 15 wurde in öffentlichen Debatten problematisiert, dass Kunst und Kultur als Träger von Erinnerung in einem intrikaten Geflecht widerstreitender Interessen, Positionen und Emotionen stehen. Auch der russische Angriff auf die Ukraine hat jene vermeintlich „alten“ Fragen, wie etwa die nach der historischen Verantwortung Deutschlands für den europäischen Osten, in den Mittelpunkt tagesaktueller Diskussionen gerückt. Nicht zuletzt steht mit dem sogenannten „Versöhnungsabkommen“ zwischen Deutschland und Namibia auch das lange vergessene und verdrängte koloniale Erbe der deutschen und namibischen Gesellschaft wieder im Fokus des Interesses.
Die von Prof. Dr. Jürgen G. Nagel (Lehrgebiet Geschichte Europas in der Welt, FernUniversität in Hagen) und PD Dr. Kristin Platt (Institut für Diaspora- und Genozidforschung, Ruhr-Universität Bochum) geleitete Summer School „Gewaltgesellschaften. Erfahrungen, Erinnerungen, Kontroversen“ lädt Studierende und Promovierende ein, eine Woche lang gemeinsam Forschungsfragen aufzuwerfen, neue Perspektiven zu erörtern und Lösungsansätze vertiefend zu diskutieren. Kritisch hinterfragen wir die kulturellen Kontexte bisheriger Erinnerungstheorien. Es wird das Konzept „kollektiver Traumata“ geprüft oder auch das Scheitern geisteswissenschaftlicher Disziplinen vor der Aufgabe der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte. In Leipzig wollen wir erkunden, wie Gewalterfahrungen Erinnerungen formen und formatieren und warum gerade diese Erinnerungen bis in die Gegenwart Anlass für Kontroversen sind. Dazu bietet die Stadt Leipzig selbst einige Gelegenheit. So wollen wir uns etwa auf die Spuren der Völkerschlacht begeben und im Grassi-Museum über die koloniale Erblast der Ethnographie reflektieren.